Saturday 6 February 2016

Ido (2005)

Kompromissloser Ausdruck von Verwirrung und Verzweiflung

Ein mysteriöser Mann, der von sich behauptet, das Gedächtnis verloren zu haben, kommt als Arbeiter in einer Schweinefarm unter – und wird Zeuge seltsamer Vorfälle. Seine Kollegen sind von Beginn an schräg drauf, doch als der Chef der Schweinefarm tot aufgefunden wird, bricht der wahre Wahnsinn aus …

Kei Fujiwaras Ido ist ein Ausflug in die düstersten Ecken des menschlichen Unterbewusstseins. Die grotesken Gewalt- und Sexszenen werden so manchen abschrecken, wobei die konfuse Story ihr Übriges tun dürfte. Die japanische Regisseurin Fujiwara (als Schauspielerin zu sehen in Tsukamotos Kultfilm Tetsuo: The Iron Man) beschäftigt sich mit Themen wie Cross-Dressing, Voyeurismus, Homosexualität, häusliche Gewalt, Missbrauch und Kannibalismus. Ido ist verstörend und will verstörend sein. Wer dabei bleibt und sich auf die Atmosphäre einlässt, wird Zeuge eines originellen und atmosphärischen Films, der durchaus interessante Dinge zu sagen hat.

Der Look des Streifens ist dreckig und billig, doch die Bildführung hat etwas durchaus Ästhetisches. Die Musik ist klasse: Sie verleiht der Geschichte einen gespenstischen und grüblerischen Ton. Zur Soundkulisse gehört das unablässige Grunzen von Schweinen – ein Hintergrundgeräusch, das einen echt nervös macht.

Bemerkenswert ist, dass der Film trotz wirrer Geschichte und eklektischer Symbolik niemals auseinander fällt. Fast ist Ido eine Aneinanderreihung von sonderbaren Szenen. Fast. Immerhin ein Thema zieht sich durch den ganzen Film: Der Mensch als Tier, genauer gesagt als Schwein. Immer wieder werden Figuren vorgeworfen, sich wie Schweine zu verhalten. Einmal ruft ein Junge: „Ich bin kein Schwein!“ Tatsächlich verhalten sich die Charaktere tierisch und triebhaft – unmenschlich, könnte man sagen. Das Schwein als Leitmotiv hat mich an William Goldings Roman Lord of the Flies erinnert und an die Aussage, dass man das Biest nicht jagen kann, da es im Menschen selbst wohnt. (Als weiterer Referenzpunkt könnte das kunstvolle Horror-Videospiel Amnesia: A Machine for Pigs dienen.) Eine andere Seite dieses Themas ist die Körperlichkeit des Menschen: Die hauchende Erzählerin vertritt eine radikale Position, wenn sie den Menschen als blosse Fleischmasse bezeichnet. Mit Ido scheint Fujiwara eine  rücksichtslose Visualisierung dieser Fleischlichkeit angestrebt zu haben.

Im Film werden zwei weibliche Figuren von traumatischen Erinnerungen geplagt. Es wird suggeriert, dass es sich um Missbrauchsfälle handelt. Die Arbeiterin Ryo (gespielt von Kei Fujiwara selbst) tickt aufgrund ihrer Vergangenheit schliesslich aus und mutiert zum grässlichen Monster. Ich habe grossen Respekt vor Kunstwerken, die tiefen Schmerz kompromisslos zeigen. Wer immer mit psychischen Störungen in Berührung gekommen ist, weiss, dass das alles andere als rosig oder rational ist. Fujiwara fängt die Verwirrung und Verzweiflung von traumatisierten Menschen mutig und ehrlich ein.

Vornehmlich aus diesem Grund gefällt mir Ido besser, als er wahrscheinlich sollte. Der Film hat mich positiv überrascht. Es dürfte jedoch klar geworden sein, dass Ido keine Wohlfühl-Fahrt ist und bei den meisten Zuschauern puren Ekel auslösen wird. Wer weder mit Underground-Horror, noch mit Arthouse-Filmen etwas anfangen kann, macht besser einen weiten Bogen um diesen Streifen. Wer sich für die oben erwähnten Themen interessiert, sollte ihm allerdings eine Chance geben.

9/10

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